Vom Hochbeet zur Selbstversorgungsgemeinschaft oder das Hobby wird zur Profession

Wolfgang Fabricius

Die Lebensweise in unseren kommerziell umstrukturierten Städten wird zunehmend unbefriedigender. Wir hausen in immer unbezahlbareren Wohnungen. Die Eckkneipen schließen, die Kiezläden sind verschwunden. Stadt- und Landleben sind verödet. Die Lebensmittel werden industriell aufbereitet und oft in grotesker Weise verfälscht. Nur noch Supermärkte und sterile Clubs scheinen zu florieren. Viele Menschen kennen Namen und Aussehen von Tieren und Pflanzen, die Stimmen der Vögel, Geschmack und Geruch von frischem Obst nicht mehr. Auch die Weiterverarbeitung und Konservierung von Obst und Gemüse wurde verlernt.

Als ich in den 80er Jahren aus dem Berliner Ökodorf in der Kurfürstenstraße heraus die Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaft Berlin e.V. (EVG) mitinitiierte und -gestaltete, bestand auch der Wunsch nach Rohmilch, um zuhause wieder Joghurt herstellen zu können. Als Wissenschaftlicher Direktor im Bundesgesundheitsamt und EVG-Gründungsmitglied kam ich diesem Wunsch nach, wurde aber von der Berliner Gesundheitsaufsicht verklagt. Der zuständige Verwaltungsrichter bemerkte, dass er es bei den Skandalen, die ständig publik werden, verstehen könne, wenn Verbraucher ihre Lebensmittel und auch Milch von Bauern ihres Vertrauens direkt beziehen wollen und stellte das Verfahren ein. Zudem erklärte er sich bereit, in dem noch ausstehenden Strafprozess als Zeuge zur Verfügung zu stehen.

Der Anbau und Vertrieb von Bioprodukten nahm zu, FoodCoops und Bioläden entstanden in allen Stadtteilen des Westens wie später auch des Ostens Berlins. Doch auch sie stehen jetzt durch die Bio-Supermarktketten unter wachsendem Druck und die Biobauern sind gnadenlosem Preisdumping ausgesetzt. Neustart Schweiz schreibt dazu: „Nachbarschaften und Bauernhöfe sind heute zwei »lose Enden« unseres Systems, die beide unbefriedigend funktionieren. Bäuerinnen und Bauern möchten gerne für Verbrauchende produzieren, die sie kennen und von denen sie endlich Anerkennung für ihre Arbeit bekommen. Sie möchten von ihrer Arbeit und nicht von Direktzahlungen leben. Die Konsumentinnen und Konsumenten möchten wissen, woher ihre Nahrungsmittel kommen und sie möchten von den niedrigeren Preisen profitieren, die bei saisonal und lokal erzeugten Produkten ohne Zwischenhandel möglich würden - auch ohne Subventionen.“1

Es gibt also viele Gründe, sich von den profitorientiert hergestellten und vermarkteten Lebensmitteln zu trennen und aus dem Kiez heraus eine Selbstversorgung aufzubauen. Und es tut sich auch was. Weltweit werden Alternativen erprobt. Neben einem urbanem Gärtnern entstehen Verbrauchergemeinschaften, Initiativen für Vertragslandwirtschaft, solidarischen Einkauf (GAS) und Communitiy Supported Agriculture (CSA), Dorfläden und ein Dorfladennetzwerk, Nachbarschafts- und Agrozentren.

Auch im Allmende-Kontor auf dem ehemaligen Tempelhofer Flughafenfeld wird im zweiten Jahr emsig gewerkelt. Die vielfältigsten Gemüse und Blumen sprießen aus fantasievoll gestalteten selbst gebastelten Hochbeeten. Eine wunderbare Betätigung, die die Stadtmenschen der Natur wieder zuführt. Aus diesem „Keimzelle“ heraus kann eine Gemeinschaft erwachsen, die sich über das Selbsterzeugte hinaus von Bauern aus Berlins Umgebung ergänzend versorgen lässt.

Über einen Bauernmarkt wollen wir erkunden, welche Bauern interessiert sind, mit uns aus dem Neuköllner Kiez heraus eine Selbstversorgungsgemeinschaft aufzubauen. Als erstes werden die Bauern der etwa 30 Höfe aus Berlins Umgebung eingeladen, sich auf dem Tempelhofer Feld mit ihren Produkten vorzustellen und gefragt, ob sie an einer dauerhaften Unterstützung über von uns organisierte Marktstände oder an ihren eigenen Marktständen begrüßen würden.

Mittels Web-Tool wollen wir aufzeigen, welche Biobauern auf welchen Märkten Marktstände betreiben und welche Produkte sie hauptsächlich anbieten. Auch Vorbestellungen und besondere Wünsche sollten möglich sein. Selbst weitere nichtlandwirtschaftliche Produkte, an denen auch die Bauern interessiert sind, könnten in das Angebot aufgenommen werden.

Wir halten es für sinnvoll, die Bauern bei ihrer Arbeit zu unterstützen und zumindest vom Vertrieb ihrer Produkte zu entlasten, denn dieser Vertrieb ist ebenso zeitaufwendig wie die Produktion und kann von Verbrauchern effektiver geleistet werden. Auch der Transportaufwand könnte minimiert werden. Eine Weiterverarbeitung der Produkte bis hin zu Kiezküchen für ältere Kiezbewohner und Singles könnte eine willkommene Ergänzung dieser Aktivitäten sein. Das Netz der Dorfläden sollte durch ein Kiezladennetzwerk ergänzt werden.

1Neustart Schweiz: Nachbarschaften entwickeln, 2011